Landesstreik: Rehabilitation der zu Unrecht verurteilten Bieler Streikenden
Überparteiliches Postulat von Fritz Freuler.
„Fortschritt dank Landesstreik 1918: Rehabilitation der zu Unrecht verurteilten Bieler Streikenden »
Der Gemeinderat wird beauftragt, bei den zuständigen Gremien vorstellig zu werden, um die Rehabilitation der zu Unrecht verurteilten Streikenden aus Biel zu bewirken.
Begründung:
Im 2018 jährt sich der Landesstreik vom 12. bis am 14. November 1918 zum 100. Mal. Der erste und einzige landesweite Generalstreik in der Schweiz hatte grossen Einfluss auf die weitere politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung des Landes. Das Oltener Aktionskomitee (OAK) unter der Leitung von Robert Grimm, Grossrat und Nationalrat, stellte verschiedene zukunftsweisende Forderungen auf: sofortige Neuwahl des Nationalrats nach dem im Oktober angenommenen Proporzwahlrecht, Einführung des Frauenstimmrechts, einer allgemeine Arbeitspflicht, die 48-Stunden-Woche, eine Armeereform, Sicherung der Lebensmittelversorgung, eine Alters- und Invalidenversicherung, ein staatliches Aussenhandelsmonopol und eine Vermögenssteuer zum Abbau der Staatsverschuldung. Zahlreiche dieser Forderungen wurden noch im selben Jahr, in den nächsten Jahren oder dann Jahrzehnte später umgesetzt. Am Streik haben rund 250’000 Arbeitende teilgenommen. Der Bundesrat forderte sodann den Streikabbruch und die Armeeführung bot Truppen auf. Unter dem Eindruck dieser Militarisierung beschloss das OAK den Streikabbruch. In der Folge leitete die Militärjustiz über 3’500 Verfahren gegen Streikende ein, die in 147 Verurteilungen (u.a. Haftstrafen) resultierten.
Schon damals empfanden es namhafte Zeitgenossen als fragwürdig, dass ausgerechnet die Militärjustiz über jene zu urteilen hatte, welche von der Armeeführung fälschlicherweise als staatsgefährdende Elemente bezeichnet wurden. Denn die Arbeiterschaft der Jahre 1914 bis 18 hatte den Bundesrat 1915 bis 1917 vergeblich aufgefordert, gegen die wachsende soziale Not vorzugehen. Als 1918 Grundbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung und Wohnung in breiten Kreisen nicht mehr gedeckt werden konnten, war der Unmut der Notleidenden nur verständlich. In mehreren Städten kam es zu regelrechten Hungeraufständen, auch in Biel, wo sich die Stadtbehörden geweigert hatten, eine Delegation von Jugendlichen zu empfangen. Die Behörden, die nach den Zusammenstössen zuerst ausländische Drahtzieher verantwortlich machten, mussten anerkennen, dass es die materielle Not gewesen war, welche zum Hungerkrawall geführt hatte1.
Das gleiche Muster gilt für den Landesstreik. Die Not hatte sogar die Bahnangestellten erfasst, vor allem die unteren Lohnklassen warteten viel zu lange auf Teuerungszulagen. Deshalb schlossen sich auch die Eisenbahner dem Landesstreik an. Sie wurden von der Militärjustiz besonders scharf verfolgt, insbesondere jene aus der Region Biel-Seeland2. Zur Anschauung hier ein Exempel: Am 1. Dezember 1919 wurde am Militärgericht in Freiburg der Fall von Ernst Studer, geboren am 27. August 1883 mit Bürgerrecht in Graffenried, behandelt. Ernst Studer war Weichenwärter der SBB in Biel-Madretsch. Das Militärgericht befand Ernst Studer für schuldig der Zuwiderhandlung gegen die Bundesverordnung vom 11. November 1918 (Unterstellung des Bundespersonals der Militärgesetzgebung) und er wurde zu 2 Tagen Haft sowie einer Geldstrafe von Fr. 160.00 verurteilt. In der Urteilsbegründung stellt sich das Militärgericht auf den Standpunkt, dass Ernst Studer am 11. November 1918 um 24 Uhr die Lampen in seinem Sektor löschte, bevor das Manövrieren beendet war, mit dem offensichtlichen Ziel, den Streik zu unterstützen und sich mit den Streikenden zu solidarisieren. Das Löschen der Lampen habe das Manövrieren der Züge im Rangierbahnhof während 15 Minuten verunmöglicht, bis der Sous-Stationschef eingegriffen habe. Mildernd wirkte der Umstand, dass Ernst Studer nach dem Eingreifen durch den Stationschef seine Arbeitskollegen zum Abschliessen der Arbeiten angehalten habe und selber weiterarbeitete, um eine Blockierung der Gleise zu verhindern.
In seiner Aussage gab Ernst Studer, Präsident der Sektion Bienne-Sonceboz des Schweizerischen Rangierpersonalverbands, die Tat zu, da er – als ernanntes Mitglied des Bieler Streikkomitees – den Befehl des OAK umsetzen und sich mit seinen Kollegen solidarisieren wollte. Da er an der Sitzung des Streikkomitees, an welcher der Beschluss gefasst worden war, sich dem Landesstreik anzuschliessen, jedoch nicht anwesend gewesen war, hätte er in den Genuss der vom Bund beschlossenen Amnestie kommen können, da er keine selbständige Handlung begangen hatte.
Solche Geschichten über Streikende, die aufgrund ihrer Unterstützung des Landesstreiks schliesslich verurteilt wurden, gibt es zahlreiche. Es ist nun an der Zeit, im 2018 – 100 Jahre nach dem Landesstreik – die historisch herausragende Bedeutung des Landesstreiks für die Entwicklung der modernen Schweiz anzuerkennen und die Akteurinnen und Akteure, die Opfer der (Militär-)Justiz wurden, zu rehabilitieren.
1 Akten der Stadtpolizei zum Hungerkrawall im Stadtarchiv Biel
2 Dissertation von Sebastian Steiner zum Thema « Die Schweiz im Ersten Weltkrieg »
Fritz Freuler, Grüne Fraktion
Dana Augsburger-Brom, SP-Juso
Judith Schmid, PdA
Glenda Gonzalez, PSR
Postulat (pdf, en allemand)